Systemrelevanz: Was ist das eigentlich?

Wir retten Banken, weil sie „too big to fail” sind. Fridays For Future fordern „system change, not climate change”. Und in der Coronakrise erklärt die Gesellschaft ihr Klinikpersonal für systemrelevant. Drei globale Debatten – Zeit, sich das Schwurbelwort näher anzusehen. Welches System ist jeweils gemeint? Wessen Perspektive wird dabei eingenommen? Reden wir über das Gleiche? Eine Einordnung mithilfe der Theorie sozialer Systeme nach Niklas Luhmann. Dabei unterscheiden wir Kommunikationssysteme von Handlungssystemen.

Luhmanns Theorie sozialer Systeme besagt, dass Gesellschaft durch Kommunikation evoluiert: Sie entwickelt sich durch Kommunikation. Ob zum Guten oder Schlechten, ist dahingestellt. In diesem Special fragen wir uns in Form eines Schlagabtauschs, ob und wie man den wirren Gebrauch des Modewortes Systemrelevanz mit Luhmanns Theorie einordnen kann.

Wie sich zeigt, lässt sich das Phänomen nicht allein von der Kommunikationsebene erfassen. Soziale Systeme wie Politik, Wirtschaft oder Gesundheit operieren zwar durch Kommunikation. Aber man muss sie auch als Handlungssysteme begreifen, die einer jeweils eigenen Zweckrationalität unterliegen. Nur wenn man die Funktion des Systems versteht und seine Zwecke von Zielen unterscheidet, scheint erfolgversprechende Kommunikation möglich. Ein System kann man nicht „changen”. Erst Ziele sind verhandelbar.

Unsere Gesprächsthemen sind

Was sind Systeme?

Welche Arten von Systemen gibt es?

Woher kommt Luhmanns Theorie?

Forschung zu Organismen

Prozesshaftigkeit der Evolution

Luhmanns Übertragung der Autopoiesis auf Kommunikation

Was sind Funktionssysteme?

Wie konnten sie entstehen?

Funktionale Ausdifferenzierung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw.

Selbstrekursivität von Systemen

Systemrelevanz als politischer Begriff mit rechtlichen Folgen: Banken werden stärker reguliert, Berufsgruppen genießen im Krisenfall Sonderrechte

Banken als Subsystem der Wirtschaft

Einzigartige hierarchische Systemorganisation: Konsumenten, Banken, Zentralbank

Psychologische Gründe für Bankenrettung

Wechsel auf die Ebene von Handlungssystemen

Kommunikationssysteme müssen auch als Handlungssysteme mit Zweckrationalität begriffen werden (Luhmann 1973: „Zweckbegriff und Systemrationalität“)

Zwecke als programmatische Anleitungen zu Entscheidungen (z.B. Parteiprogramme)

Zwecke als Ziele von Handlung

Normative Bedeutung für die Handelnden

Per definitionem erstrebenswert: Zwecke werden nicht in Frage gestellt

Zwecke lassen das Handeln alternativlos erscheinen

Zwecke als blinder Fleck

Ziele sind verhandelbar

Weitere Aspekte der globalen Debatten

Systemrelevanz als Frage der persönlichen Betroffenheit

Systemrelevanz als Medien-Frame mit populistischem Charakter

Relevanz als Perspektivfrage: Wikipedia fokussiert auf die Sicht von Banken und Großunternehmen

Relevanz aus Gesellschaftsperspektive: Staat, Gewaltenteilung, Parlamente u.v.m.

Fridays For Future: Dreifach-Adressierung an Politik, Wirtschaft, Gesellschaft

Vorteil: viele Debatten

Nachteil: Unterdifferenzierungen, Ebenenverlagerung, Verwässerung

Klimaschutz: Systemrelevanz als Frage von globalem Recht

Risiken für Konzerne oder Regierungen bedeuten Gefahren für die Gesellschaft

Barrieren der Kommunikation überwinden: Wie stellt man die „richtigen” Fragen?

Unser Fazit

Der anfangs negativ konnotierte Begriff „Systemrelevanz” hat sich zu einem populistischen Medien-Frame gewandelt und wird in beliebigen Kontexten verwendet. In Debatten muss gefragt werden, welches System im konkreten Fall gemeint ist und wessen Perspektive (nicht) eingenommen wird.

Debatten über „System Change” erfordern es, die Funktion eines Systems zu verstehen: Was leistet es für die Gesellschaft, was ist schützenswert? Zwecke, die der Funktion dienen, lassen sich kaum hinterfragen. Ziele sind dagegen variabel und verhandelbar – solange die Zweckrationalität des Systems in der Argumentation plausibel gewahrt wird.

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